Freitag, 10. Mai 2013

Wie das - vielleicht - war mit Goliath


Patronatskind No 2

Es waren die Lummerjahre in der Zeit, als der sanfte und weise Richard von Weizsäcker als Bürgermeister die große Stadt Berlin regierte, - wenn er nicht gerade auf Reisen weilte. In der immer noch geteilten Stadt im Westen schoben sich viele Flüchtlinge aus dem bürgerkriegserschütterten Ceylon, aus Persien und aus den Bergen im Kurdengebiet. In Kreuzberg, in den heruntergekommenen Mietshäusern mit ihren vom Krieg her pockennarbigen Fassaden, wuchsen Frust und Groll bei Studenten, Arbeitslosen, abgewirtschafteten Arbeitern. Die Bundesregierung wollte lauter Sachen wissen in einer Volkszählung, die sie nichts anging und mit der sie den Gehorsam testen wollte.

In der Zeitung erschien das Photo vom alten knurrigen Helmut Gollwitzer, der eine Matratze auf seinem Kopf zu einem der besetzten Häuser transportierte. Die Polizei mochte die Hausbesetzer, und überhaupt alle Raudis, gar nicht, und es wurden Knüppel gezogen, und die grünen Minnas wetzten durch die Straßen zum nächsten Einsatz. Innensenator Lummer verhängte eines Tages sogar eine Stadtteilsperre in SO36, und das war, wo es in den Straßen richtig anfing zu kochen.


Reprodukt
Tom Gauld
Goliath
Ü: Nicolas Mahler
Reprodukt, 2012
15,00 €


In diesen wilden Zeiten also besuchte ich hin und wieder die Messe in St. Marien Liebfrauen in der Wrangelstraße, weil dort ein guter Mann Gottes gegen Hass und Gewalt predigte und die Türen und Arme für alle öffnete, ganz gleich auf welcher Seite sie sein mochten. Da war eine seiner Predigten tatsächlich über Goliath, den furchtbar großen und starken Mann in seiner undurchdringlichen Rüstung, und was Pfarrer Klaus Kliesch uns fragte war, was wohl zum Vorschein käme, wenn der Mensch Goliath aus seiner Rüstung heraussteigen würde. Vielleicht wär er ja gar kein brutaler Grobian, sondern vielleicht ein sensibler und trauriger Mensch, der zu seiner Rolle verdonnert wäre und nicht wüßte, wie ihm geschähe.... Und was ist mit den Bullen, und mit Lummer, waren die nicht auch Menschen?

Buchpatron werden
All das kam mir wieder in den Sinn bei Erscheinen dieses kargen, ruhigen, man möchte sagen brummeligen Comic, in dem es um genau diesen Herrn Goliath geht. Wir brauchen gar nicht dreißig, vierzig Jahre oder zwei Jahrtausende in die Geschichte zurückzukehren, um von dieser Geschichte aufs Neue angesprochen zu werden; inzwischen hat sich ja der "Feind" in den Sprachgebrauch und in die Weltsicht wieder eingefunden, aus denen er hier in Deutschland beinahe ganz verschwunden gewesen war. Dadurch ist unsere Zeit wieder ein ganzes Stück kälter und unmenschlicher geworden, und es ist ein guter Akt der Besinnung, diese Buch aufzuschlagen, die Geschichte zu betrachten, Seite um Seite, und sich seinen Teil dabei zu denken und sich zu fragen, was für ein Mensch wohl dieser Goliath sein könnte, der uns Tag für Tag anbrüllt und zum Kampf auffordert.


PS: Tom Gauld veröffentlicht seine Cartoons unter anderem im Guardian

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